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13.02.2023
Drei Jahre Hanau: Podiumsdiskussion & Pressemitteilung
Rückblick – Podiumsdiskussion „Hanau ist 365 Tage im Jahr"
Anlässlich des dritten Gedenktages an die Opfer des rassistischen Attentats von Hanau fand am 20.02.2023 eine virtuelle Podiumsdiskussion mit dem Titel „Hanau ist 365 Tage im Jahr –Wie Gedenken zur inklusiven Erinnerungskultur werden kann“ statt. Veranstaltet wurde diese vom Bundeszuwanderungs- und Integrationsrat (BZI) und dem Dachverband der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland (DaMOst e.V.).
Umrahmt von Videobotschaften der Angehörigen der Opfer des rassistischen Anschlags wurde in einer Runde von Expert*innen aus Wissenschaft, Politik und Kunst der Opfer gedacht, über Theorie und Praxis der Erinnerungskultur(en) in Deutschland diskutiert und der Frage nachgegangen, wie diese von verschiedenen Gesellschaftsbereichen unterstützt und inklusiv und Betroffenen-zentriert gestaltet werden kann. Dabei wurden Unterschiede zwischen Ost und West, früher und heute, diskutiert. Auch dem Zusammenhang von Alltagsrassismus und rassistischer Gewalt wurde nachgegangen.
Auf dem Podium und mit dem Publikum diskutierten mit der Moderatorin Dr. Deniz Nergiz, Geschäftsführerin des BZI:
- Elona Beqiraj, Lyrikerin und Projektleiterin „Solange wir erinnern – Schaffung eines Hanau-Gedenktags an Schulen”
- Yasemin Shooman, Leiterin des Referats „Bekämpfung von Rassismus und Unterstützung Betroffener“ im Arbeitsstab der Beauftragten der Bundesregierung für Antirassismus
- Eter Hachmann, Beigeordnete Stadt Dessau-Roßlau Städte und Gemeindebund Sachsen-Anhalt, Vorsitzende von DaMOst
- Patrice Poutrus, Historiker und Migrationsforscher mit Schwerpunkt auf DDR und Ostdeutschland
Videobotschaften von Angehörigen
In Video-Beiträgen der Initiative 19. Februar Hanau, in denen Emiş Gürbüz und Serpil Temiz Unvar, die Mütter der ermordeten Hanauer Sedat Gürbüz und Ferhat Unvar, zu Wort kamen, wurden zum einen der anhaltende Schmerz der Angehörigen sowie die immensen Lücken bei der Aufklärung der Tat durch die Behörden deutlich. Gleichzeitig entstand durch den Video-Beitrag von Said Etris Hasheimi am Ende der Veranstaltung auch ein kraftschöpfender, hoffnungsvoller Blick auf die gesellschaftliche Zusammenarbeit, sowohl in Hinblick auf die Erinnerung an die Opfer des rassistischen Anschlags in den letzten drei Jahren als auch auf die gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Rassismus in Zukunft zu bekämpfen.
Morde in Hanau, Halle und im Fall Walter Lübckes eine „Zäsur“
Zu Beginn der Veranstaltung gab Dr. Yasemin Shooman Einblicke in den kürzlich durch die Bundesregierung veröffentlichten Lagebericht zu Rassismus in Deutschland. Dazu stellte sie fest, dass die Morde in Hanau, Halle und im Fall Walter Lübckes eine „Zäsur“ in der öffentlichen Debatte darstellen und das Thema ganz oben auf die politische Agenda gesetzt haben. Für die Antirassismusbeauftragte der Bundesregierung stehen die Bedarfe der von Rassismus Betroffenen im Mittelpunkt, weiterhin sei es wichtig, so Dr. Shooman, Projekte zu fördern, die ihnen einen niedrigschwelligen Zugang zu Unterstützung und Beratung gewähren.
Konkrete Maßnahmen: Communitiybasiert und aus dem Umfeld der Anschläge
Als konkrete Maßnahmen nannte Dr. Shooman den Auf- und Ausbau von communitybasierten Beratungsangeboten sowie die Stärkung von Opferinitiativen aus dem Umfeld der Anschläge von Hanau, Halle oder auch des NSU und anderer. Dr. Shooman wies außerdem auf den direkten Zusammenhang von Alltagsrassismus und strukturellem Rassismus hin, der sich auch unbewusst und unbeabsichtigt entfalten könne, zum Beispiel in bestimmten Handlungsroutinen. Deshalb sei es wichtig, neben Schulen und Ausbildungsstätten auch Behörden wie die Polizei im Umgang mit Rassismus weiter zu sensibilisieren und zu professionalisieren und in antirassistischen Maßnahmen einzubinden.
Rassismus-Erfahrungen müssen ernst genommen werden
Dr. Patrice Poutrus ergänzte diesen Ansatz, indem er nachdrücklich betonte, dass antirassistische Aufklärungsarbeit damit beginne, betroffene Personen, die diese leisten, zu unterstützen. Dies müsse sowohl auf der rechtlichen Ebene erfolgen, als auch durch Empathie mit den Betroffenen: „Die Erfahrung derjenigen, die Rassismus erleben, muss ernstgenommen werden und darf nicht entwertet werden“. Dies sei besonders angesichts einer aktuellen gesellschaftlichen Tendenz zum „Victim Blaming“ zentral, bei dem nicht diejenigen, die vor rassistischen Angriffen Furcht haben, Schutz bekommen, sondern häufig die Täter*innen.
Aus Tabuisierung resultiert Abwehr
Als Antwort auf die Frage, wie Rassismus und das Gedenken an rassistische Gewalt sich vor der Wiedervereinigung in Ost und West unterschieden, erläuterte Dr. Poutrus, dass diese Unterschiede bis heute tiefgreifend seien und anhalten. In der DDR galt „Rassismus als Problem des kapitalistischen Westens“ und war offiziell verboten. Dies führte dazu, dass rassistische Vorfälle durch das Selbstverständnis des Sozialismus zu geheimen Tatbeständen (Tabus) der Gesellschaft wurden, was bis heute zu Abwehrmechanismen bei der Thematisierung von Rassismus und dem Erinnern an rassistische Gewalt im Osten führe.
Künstlerische Ausdrucksformen stärken Antirassismus bei Schüler*innen
Elona Beqiraj berichtete aus ihrer Praxiserfahrung als Projektleiterin des Projekts „Solange wir erinnern – Schaffung eines Hanau-Gedenktags an Schulen“ und betonte die Wichtigkeit der antirassistischen politischen Bildung von Schüler*innen an Schulen und bei außerschulischen Aktivitäten. Insbesondere künstlerisches Erinnern, beispielsweise im Rahmen von Podcasts, Theater und Film, schaffe einen großen Erkenntnisgewinn, ein gestärktes Bewusstsein und weiterführendes Engagement im Bereich Antirassismus bei den Schüler*innen. Dabei sei es wichtig, auch die Rolle der nicht von Rassismus betroffenen Personen als Verbündete im Kampf gegen Rassismus zu stärken und Möglichkeiten für deren Beteiligung zu schaffen, ohne dass sie für die Betroffenen sprechen. Auch das Empowerment von Betroffenen sei bei der Erinnerungsarbeit zentral, ebenso wie die Erleichterung von Zugängen zum Erinnern und Gedenken: „Wissenschaftliche Analysen sind wichtig, noch wichtiger ist es aber, mit denjenigen Menschen über Formen von Gedenken zu sprechen, die sonst nicht den Zugang dazu haben“.
Neue Erinnerungskultur braucht neues Selbstbild der Gesellschaft
Einig waren sich die Teilnehmenden in ihrer Kritik an der aktuellen Erinnerungskultur, in der die Opfer und die Angehörigen der Opfer rassistischer Taten nicht ausreichend berücksichtigt seien. Dr. Poutrus stellte fest, dass moderne Nationalstaaten sich mittlerweile „durch ein ganzes Orchester an erinnerungspolitischen Maßnahmen auszeichnen“, dass dabei aber oft Personengruppen gedacht wird, die die Grundlagen der aktuellen Missstände in unserer Gesellschaft schufen. Als ein Beispiel hierfür nannte er die Denkmäler und das Opfergedenken für Soldaten des 1. und 2. Weltkrieges, die besonders in Ostdeutschland nach wie vor präsent sind. Weiterhin warf er folgende Frage auf: „Wenn uns das Leiden und die Opfer rassistischer Gewalt nicht egal sind: Warum berufen sich dann immer wieder Täter auf den Deutschen Nationalstaat, um ihre Taten zu legitimieren?“ Ohne eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Frage und einem tiefgreifenden Wandel des Selbstbildes der deutschen Gesellschaft könne keine Veränderung herbeigeführt werden, so Poutrus.
Vielfalt in Verwaltung und Kommunalpolitik wichtig
Eter Hachmann ergänzte zudem die Perspektive der öffentlichen Verwaltung auf das Gedenken an rassistische Taten und eine diesbezügliche Erinnerungskultur und betonte, dass hier kein initiatives Handeln der Behörden die Lösung sein könne. Stattdessen sollte die Verwaltung eng mit migrantischen Verbänden und Dachverbänden zusammenarbeiten, Austauschrunden und kulturelle Veranstaltungen initiieren und Rassismus besprechbar machen und gleichzeitig Haltung zeigen.
Als Grundvoraussetzung für diese Arbeit sieht Eter Hachmann die staatliche finanzielle Unterstützung von Migrant*innenorganisationen: „Wir brauchen Kontinuität in unserer Arbeit, wir brauchen langjährig angesetzte Förderungen der Arbeit der Migrant*innenorganisationen, die nicht nur 1-2 Jahre dauern, und wir brauchen eine enge Zusammenarbeit mit den Städten!“ Weiterhin sei eine diverse Aufstellung der Stadträte, der Kommunen und der Länder unabdinglich, die bislang noch zu wünschen übrig lasse: „Wenn wir in der Zukunft nicht vielfältigere Stadträte aufgestellt bekommen, dann wird nichts passieren!“
Überein kamen die Sprecher*innen zur Wichtigkeit des Erinnerns außerhalb spezifischer jährlicher Gedenktage, um weg von rituellen Gedenkpraktiken, hin zu einer antirassistischen gesellschaftlichen Haltung zu finden.
Dieser Text stammt vom Bundeszuwanderungs- und Integrationsrat und ist zuerst auf dessen Internetseite erschienen. Die Zwischenüberschriften stammen von DaMOst e.V.
Die Migrant*innenorganisationen Ostdeutschlands, namentlich die Vereine DSM, LAMSA, MigraNet M-V, MigraNetz Thüringen, MIR und DaMOst haben anlässlich des 3. Jahrestages des Anschlags eine gemeinsamen Pressemitteilung veröffentlicht und darin weitere politische Konsequenzen gefordert.